Die Stilllegung
„fahrplananordnung nr 44 – gueltig ab 29.12.1989 bis 26.05.1990
der streckenabschnitt kleve – xanten wird ab 02.01.1990 auf busbedienung umgestellt. Die zuege n 8905, 8909, 8911, 8923, 8933, 8937, 8947, 8902, 8916, 8918, 8926, 8930, 8934, 8938 entfallen zwischen kleve und xanten“.
Diese Fahrplananordnung der BD Köln vom 28.12.1989 besiegelte nach 85 Jahren das Ende des Eisenbahnbetriebs zwischen Xanten und Kleve.
Völlig überraschend kam die Stilllegung nicht, dieses Damoklesschwert schwebte schon seit Jahren über dem Nordabschnitt des Hippelandexpress. Allein der Zeitpunkt, bereits Ende des Jahres 1989, war dann doch eine Überraschung. Zwar stand seit dem Fahrplanwechsel im September ein entsprechender Hinweis in der Kursbuchtabelle 475, aber noch am 24. November hieß es im „Boten für Stadt und Land“, der Lokalausgabe der Rheinischen Post (RP) für Xanten und Umgebung, „Züge rollen auch noch im neuen Jahr“. Eine Eingabe an den Petitionsausschuss des Bundestages hatte die Stillegung noch einmal aufgeschoben. Doch der Petitionsausschuss entschied schneller als erwartet. Und so meldete der „Bote“ am 23. Dezember 1989, dass am Freitag, den 29. Dezember der letzte Betriebstag zwischen Xanten und Kleve sei.
Nach den Gründen muss man nicht lange suchen, es waren die gleichen, die in den achtziger Jahren zu vielen Stilllegungen führten: Die Eisenbahn hatte schon lange gegen den Individualverkehr mit PKW verloren, gegen das Transportmittel LKW sowieso. Die Deutsche Bundesbahn war chronisch unterfinanziert, eine Folge einer einseitig auf PKW und LKW setzenden Verkehrspolitik. Investitionsstau im Verbund mit Konzeptlosigkeit und Desinteresse tat ein Übriges.
Doch es lag nicht allein an der Deutsche Bundesbahn und der deutschen Verkehrspolitik, dass Xanten – Kleve stillgelegt wurde. Denn es ist ja schon bemerkenswert, dass die verkehrspolitische Kehrtwende der neunziger Jahre nicht zu einer Reaktivierung der Strecke geführt hat.
Wenn man also nach den Gründen für die Stilllegung sucht, muss man ganz am Anfang anfangen – nicht bei Adam und Eva, aber in der zweiten Hälfte des 19. Jh., als am linken Niederrhein verschiedene Bahnprojekte diskutiert, geplant und wieder verworfen wurden. Damals schon fand sich nämlich kein Investor, weil ein großer Teil der Strecke durch ländliche Gebiete verlief, die nur wenig Einnahmen versprachen. Erst die Verstaatlichung der preußischen Eisenbahngesellschaften und die Gründung des Krupp-Stahlwerkes in Rheinhausen schufen die Voraussetzungen dafür, eine Eisenbahnverbindung von Duisburg nach Kleve zu bauen. 1904 wurde sie eröffnet.
Der preußische Staat und die zumeist ländlich strukturierten Gemeinden zwischen Moers und Kleve versprachen sich einen wirtschaftlichen Aufschwung durch die neue Eisenbahnverbindung. Doch mit Ausnahme von Rheinberg bzw. Millingen, wo sich mit der Solvay ein Chemiewerk ansiedelte, das das Steinsalz aus dem Bergwerk Borth weiter verarbeitete, blieb der erhoffte Aufschwung aus. Die Bahn transportierte Arbeitskräfte vom Land ins Ruhrgebiet, der Güterverkehr war überwiegend durch landwirtschaftliche Produkte bestimmt.
Mit der Wende zu mehr Individualverkehr und LKW-Transporten in den sechziger und siebziger Jahren verlor die Bahn auf dem platten Land mehr und mehr an Boden. Teilweise war das hausgemacht: Busparallelverkehr, ungünstige Fahrzeiten, Angebotsverringerung wo vielleicht eher eine Offensive gefragt gewesen wäre. Doch teilweise spielten auch Faktoren eine Rolle, auf die die Deutsche Bundesbahn keinen Einfluss hatte. So berührte die Strecke zwischen Xanten und Kleve nur mit Kalkar eine größere Ortschaft, Marienbaum und Appeldorn, die beiden anderen verbliebenen Halte, waren deutlich kleiner, Appeldorn lag noch dazu außerhalb des eigentlichen Ortskerns. Kaum ein Pendler aus den umliegenden Ortschaften war bereit, mit dem Auto nur bis zum nächsten Bahnhof zu fahren, von entsprechenden (und ansprechenden) Busverbindungen ganz zu schweigen.
Auch der Niedergang der Montanindustrie seit den achtziger Jahren trug dazu bei, dass weniger Menschen mit dem Hippelandexpress fahren wollten. 1982 wurde das Walzwerk in Rheinhausen geschlossen, seit 1987 kämpfte die Belegschaft des Stahlwerkes gegen die angekündigte Schließung. Die Proteste konnten die Schließung noch einige Jahre hinauszögern, doch 1993 war endgültig Schluss. Mehrere zehntausend Arbeitsplätze waren seit Beginn der Stahlkrise Mitte der siebziger Jahre verloren gegangen. Und im Bergbau gingen im gleichen Zeitraum noch einmal so viele Arbeitsplätze verloren, entsprechend sank auch das Reisendenaufkommen (nicht nur) auf dem Hippelandexpress. In einem Schreiben der Bundesbahndirektion Köln an den Landtagsabgeordneten Ludger Hovest (SPD) heißt es, dass im Abschnitt Xanten – Kleve zwischen 1982 und 1984 die Reisenden-km je km Betriebslänge von 613 auf 449 zurückgegangen seien (Quelle: RP, vermutlich 1985, leider kann ich das an meinen Unterlagen nicht mehr mit Sicherheit feststellen).
Da war es nur konsequent, dass die DB das zweite Gleis in Marienbaum aufgab, als dessen Sanierung fällig war. Marode Bahnanlagen, veraltete, personalintensive Technik - der Investitionsstau war Mitte der achtziger Jahre schon so groß, dass Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis mehr standen – jedenfalls nicht aus Sicht der notorisch klammen Bundesbahn.
In diesen Jahren gab es in der Presse kurz vor dem jeweiligen Fahrplanwechsel rgelmäßig schlechte Nachrichten. Der Wagenladungsverkehr wurde eingestellt, nach Xanten 1988, von Kleve aus Richtung Kalkar, Appeldorn und Marienbaum schon früher. Irgendwann fuhren zwischen Kleve und Xanten am Wochenende keine Züge mehr. Im Februar 1988 erklärte der Präsident der Bundesbahndirektion Köln auf der Jahrespressekonferenz, dass die Strecke von Xanten nach Kleve nicht mehr „verkehrswürdig“ sei. In der ÖPNV-Rahmenvereinbarung zwischen der Bundesbahn und dem Land Nordrhein-Westfalen zur Sicherung und Planung des öffentlichen Personennahverkehrs von 1988 war die Strecke nicht mehr aufgeführt. Und vor dem Fahrplanwechsel im Mai 1989 hieß es in der RP, dass vier Millionen Mark in die Strecke Xanten – Kleve investiert werden müssten, um den Zugbetrieb aufrecht zu erhalten. Doch diese Investition lohne sich nach Meinung der DB nicht mehr.
Der Oberbau der Strecke war so marode, dass die Höchstgeschwindigkeit zwischen Xanten und Kleve im Sommer 1989 stellenweise auf 50 km/h herabgesetzt werden musste. Im November 1989 war dann ein bemerkenswerter Messzug zwischen Xanten und Kleve unterwegs: 103 001, gezogen von einer Osnabrücker 216 und begleitet von einem Messwagen, prüfte den Oberbau auf Herz und Nieren. Auch wenn es nach der Überprüfung unter Eisenbahnern gerüchteweise hieß, dass zwischen Xanten und Kleve abschnittsweise nach wie vor noch 80 Stundenkilometer gefahren werden könnten, setzte die Bundesbahndirektion Köln die Höchstgeschwindigkeit für diesen Streckenabschnitt auf 30 km/h herab. Allerdings nicht sofort, sondern erst vom 1. Januar 1990 an.
Auch der Fahrzeugeinsatz entsprach dem Fahrgastaufkommen in keinster Weise. Von Dieselloks der Baureihen 211, 212 und 215 gezogene Züge mit ein bis drei Wagen beförderten viel heiße Luft. Und ein mit einer 212 bespannter 1-Wagen-Zug (wie oben auf der Seite zu sehen und 1988 und 1989 üblich) kann kaum wirtschaftlich gewesen sein. Triebwagen? Fehlanzeige. Der Retter der Nebenbahnen (ein 795 oder 798) hat wohl mal ein Gastspiel gegeben (ein entsprechendes Foto findet sich im Stadtarchiv Xanten), war aber schon lange wieder von der Strecke abgezogen worden, die Akkutriebwagen, die in den frühen achtziger Jahren bis Kleve verkehrten, endeten mangels Reichweite in Xanten und der Siegeszug des 628 kam für den Hippelandexpress zu spät.
Im Rückblick wird man wohl sagen müssen, dass drei Faktoren zur Stilllegung geführt haben: Erstens führte die Strecke durch strukturschwaches Gebiet und hatte kein ökonomisch tragendes Fundament, zweitens trug die verkehrspolitische Gesamtsituation mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf PKW- und LKW-Verkehr ihren Teil dazu bei und drittens haben Entscheidungen der Deutschen Bundesbahn zum Rückgang des ohnehin nicht großen Verkehrsaufkommens geführt. Fahrplangestaltung, Fahrzeugeinsatz und dringend notwendige Sanierungen, die unterlassen wurden, machten die Strecke ebenso kaputt wie die Tatsache, dass der Bundesbahn für umfangreiche Investitionen schlicht das Geld fehlte.
Und so kam es wie es kommen musste: am 29.12.1989 verließ um 19.42 Uhr der letzte Personenzug Xanten in Richtung Kleve, um 19.57 fuhr der letzte reguläre Nahverkehrzug von Kleve Richtung Duisburg ab. Ihm folgte um 20.35 als letzter Zug überhaupt Lr 33 339 nach Xanten, wie der Fahrplananordnung zur Stilllegung zu entnehmen ist. Die anfangs noch verbreiteten Hoffnungen auf eine Reaktivierung erfüllten sich nicht. Inzwischen sind die Gleise abgebaut, der Oberbau abgetragen und an verschiedenen Stellen durch Straßen Tatsachen geschaffen worden, die eine Wiederinbetriebnahme nahezu ausschließen.